Duschen im Kerzenschein oder: Warum ist unser Leben eigentlich so kompliziert?

2023-02-16 16:11:33 By : Ms. Karen Xie

Kerzen kaufen? Einfacher gesagt als getan. Auf einmal funktioniert die Bankkarte unserer Autorin nicht mehr. Doch das ist nur der Beginn der Schwierigkeiten.

Seit ich einmal auf der Straße zwei alte, messingfarbene Kerzenleuchter gefunden habe, dusche ich gern bei Kerzenschein. Nirgendwo in der Wohnung fand ich Platz für die Leuchter, nur links und rechts des großen Spiegels im Bad war noch etwas frei. Während das heiße Wasser auf meine Schultern prasselt, betrachte ich im Wandspiegel im Kerzenlicht meine Wohnung. Sie ist so klein, dass sie komplett in den Spiegel passt. Ich kann sogar aus dem Wohnzimmerfenster schauen, bis die Scheiben der Kabine beschlagen und nur noch die Lichter in den Tröpfchen flackern.

Anfang Januar musste ich neue Kerzen zum Duschen kaufen, doch der einzige Laden, der sie in der passenden Farbe anbietet, nimmt nur Bargeld. Mein letztes Bargeld hatte ich am Vortag in der Bar ausgegeben. Meine Zeit war knapp, aber ich brauchte die Kerzen dringend. Also fuhr ich zum Geldautomaten. Der Automat behauptete, meine Karte sei ungültig. Ich versuchte es wieder und wieder. Es dauerte einige Zeit, bis ich herausgefunden hatte, dass die Karte mit Ende des Jahres 2022 abgelaufen war. Die Bank hatte mir keine neue geschickt.

Ich verliere schnell die Nerven, wenn mein Alltag nicht mehr funktioniert. Ich spreche dann einfach Leute an, aber die können mir ja nicht helfen. Also stand ich letztendlich, Selbstgespräche führend, ziemlich verloren im Strom der Passanten des Einkaufszentrums. Ich rief sofort die Bank an, in der Hoffnung auf einen Menschen mit beruhigender Stimme, der sich für das Versehen entschuldigen und meine alte Karte mit einem Knopfdruck noch einmal freischalten würde, bis ich eine neue hätte.

Am Apparat forderte eine Maschine meine Teilnehmernummer. Ich überlegte fieberhaft und tippte eine Fantasienummer ein. Die Maschine forderte nun die Online-PIN. Ich tippte sie ein. Die Maschine sagte, ich sei nicht zu identifizieren und müsse mich auf eine längere Wartezeit einstellen. Ich beendete das Gespräch, fuhr ohne Kerzen nach Hause und versuchte es online. In meinem Account gab es lediglich die Option „Karte verloren“, um eine neue zu bestellen.

Ich fühlte mich schlecht, als ich diese wählte. Ich verlor meine Karten nicht. Ein einziges Mal hatte ich eine ganze Tasche im D-Zug am Mantelhaken hängen lassen. Da war ich neunzehn und verlor oft Dinge. Doch das war der vorläufige Höhepunkt gewesen. Ich musste erleben, dass ich ohne Pass und Karten quasi nicht existierte. Seit dieser traumatisierenden Begebenheit kontrolliere ich wie besessen ständig die Vollständigkeit meiner Karten und Papiere. Andere Dinge vergesse ich nach wie vor: In der Vergangenheit suchte ich einige Male morgens panisch nach meinem Auto, ohne Erinnerung, wo ich es geparkt hatte. Ich habe Brillen verloren, Handschuhe, Yogamatten und Fahrräder, aber niemals wieder eine Karte oder einen Pass.

Ich schickte die Verlustmeldung ab. Während für die Bestellung jeder einzelnen Blumenzwiebel Bestätigungsmails versandt werden, hielt es meine Bank nicht für notwendig, die Verlustanzeige meiner Karte zu bestätigen. Nach zwei Tagen traf immerhin der Brief mit der neuen PIN ein. Ich atmete auf.

Glücklicherweise besitze ich eine Kreditkarte. Natürlich ist es in einer Stadt wie Berlin nicht einfach, mit einer Kreditkarte durchzukommen, blinkt einem doch an jeder Ecke ein weltmännisches „Cash only“ entgegen. Doch nachdem die PIN angekommen und ich sicher war, dass die neue Geldkarte in Kürze folgen würde, wurde ich mutiger und bezahlte auch größere Einkäufe mit der Kreditkarte. Bis ich eines Tages an einer Ladenkasse aufgefordert wurde, die PIN einzugeben. Ich kannte die PIN der Kreditkarte nicht. Ich hatte sie nie gebraucht.

Inzwischen war über eine Woche vergangen. Ich wühlte mich durch meine Ordner und fand die Teilnehmernummer. Ich wählte die Hotline der Bank und schleuderte der Maschine die Zahl an ihren gefühllosen Kopf. Das funktionierte. Irgendwo klingelte es und kurz darauf meldete sich – ein Mensch! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Diese Mischung aus professioneller Höflichkeit, leichter Genervtheit, Süffisanz und einer deutlichen Spur Empathie konnte nur menschlichen Ursprungs sein. Die Stimme eines jungen Mannes. Er nannte mir den Tag, an dem meine neue Karte abgeschickt worden sei.

Die Postboten kommen nur noch selten durch unsere stille Straße, aber freitags ist meist etwas im Kasten. Morgen also! Der junge Mann versicherte mir, dass die Bank die Karten nach wie vor rechtzeitig zustellt, doch habe es im letzten Jahr Schwierigkeiten in Berlin gegeben. Ich war erleichtert. Schwierigkeiten in Berlin. Das hieß, alles war wie immer. Ich war gar nicht allein, sondern Teil der wunderbaren Schicksalsgemeinschaft dieser Stadt. Wir Berliner lieben unsere Schwierigkeiten. Ohne sie wären wir keine Helden.

Erst gestern waren alle Gäste unserer Vernissage mit großer Verspätung eingetroffen, weil praktisch keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren. Der Tunnel der S1 droht einzustürzen, die U2 liegt seit Monaten unter den Trümmern eines ehrgeizigen Bauprojekts begraben, dabei lehrt uns die Geschichte, dass Ehrgeiz nicht mit dieser Stadt kompatibel ist. Die M10 hatte wie gewöhnlich Unregelmäßigkeiten. Trotzdem waren alle Gäste guter Laune. Sie hatten es geschafft, einige Ersatzbusse zu erjagen und waren angekommen.

Am Abend zuvor hatte ein Mitschüler in der Yogaschule lachend erzählt, wie er nach einem Rohrbruch gegen die Wassermassen in seiner Wohnung gekämpft hatte. Er hatte Fotos dabei, die ihn in einer lustigen Schutzkleidung aus Müllsäcken zeigten, als er gerade die Zwischendecke antippte, damit das Wasser, das sich dahinter gesammelt hatte, in seinen Flur abfließen konnte. Auch bei uns im Haus brechen im Winter regelmäßig Rohre. Es liegt an dem Material der Neunzigerjahre, mit dem in Berlin Tausende Häuser billig saniert wurden.

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“, fragte die schöne Stimme am anderen Ende, in der sich ein menschliches Leben offenbarte, mit teuren Restaurantbesuchen, Dates, Rasur-Ritualen am Morgen und knirschenden Zähnen in der Nacht.

„Haben Sie eine Idee, wie ich die PIN meiner Kreditkarte herausfinde?“

„Sie können im Online-Banking eine Wunsch-PIN eingeben.“

„Eine Wunsch-PIN?“, hauchte ich fassungslos. Am anderen Ende war ein Märchenprinz. Ich hatte mit meinem Zauberschwert, der Teilnehmernummer, die böse, dornige KI besiegt, um zu ihm zu gelangen. Und nun nahm mich Dornröschen an die Hand und führte mich zu meiner Wunsch-PIN. Nachdem ich mich mit einer Liebeserklärung von ihm verabschiedet hatte, gab ich die Wunsch-PIN ein. Ein psychedelisch schimmernder Barcode flammte auf, der zu scannen war, um den Vorgang abzuschließen. Das funktionierte nicht.

Keine PIN, keine Karte, kein Bargeld. Natürlich hätte ich eine halbe Tagesreise zu einer Bankfiliale unternehmen können, aber ich muss schließlich arbeiten und kann als Selbstständige nirgendwo Sonderurlaub beantragen. Also belieh ich die Kaffeekasse im Büro. Auch am Freitag kam die Karte nicht an. In der Tageszusammenfassung auf LinkedIn stand, dass die Post deutschlandweit streikt.

Am darauffolgenden Wochenende hatte ich eh keine Zeit, Geld auszugeben. Ich quälte mich mit einem längst fälligen Formular für das Finanzamt. Immerhin traf ich auf der Elster-Website einen freundlichen Bot, der sich dafür entschuldigte, dass er noch jung sei und daher nicht alles wisse, ein Understatement seiner intelligenten Schöpfer:innen, denn mit seiner Hilfe fand ich das vereinfachte Formular. So etwas gibt es. Sofort informierte ich meine Freundeskreise auf allen Kanälen.

Ich denke an den Karton roter Leuchter-Kerzen, den ich in einem Lockdown auf der Straße gefunden habe. Man findet in Berlin wirklich gute Dinge auf der Straße: Tische, Designerstühle, Badetücher und Hemden, aber leider nie das, was man gerade dringend braucht.

Nun wurde die Wahl in Berlin wegen der landesüblichen Schwierigkeiten wiederholt und ich stelle mir vor, eine Partei besäße den Mut, statt Sprüche auf Pappen zu drucken, Fragebögen an die Bürger zu verschicken. Fragebögen, auf denen es nicht um Verluste, sondern um Zukunftsentwürfe geht, nach dem Motto: Wie möchten wir in den nächsten vier Jahren leben? Was brauchen wir wirklich? Wie gestalten wir die Stadt?

Schwierige Fragen, über die viele nicht gern nachdenken. Man könnte sie konkretisieren: Beschreiben Sie Ihre Beziehung zu dem Ort, an dem Sie leben! Besitzt er die Lebensqualität, die Sie sich wünschen? Begründen Sie Ihre Antwort! Welche Bahnlinie sollte zuerst saniert werden? Aus welchem Fond bezahlen wir geschultes Personal, das Menschen mit Besonderheiten durch den digitalen Alltag begleitet? Wer sollte Ihrer Meinung nach Steuererhöhungen bekommen, um Geld freizumachen für die dringend anstehenden Aufgaben?

Die meisten Leute würden wahrscheinlich maulen und keine Lust haben, so ein Formular auszufüllen. Viele denken, es sei nicht ihr Job, an Lösungen zu arbeiten, schon gar nicht an Utopien. Die Philosoph:innen und Schriftsteller:innen sollten das tun. Aber wie, bitte schön, sollen wir Schriftsteller:innen Zeit zum Nachdenken finden, wenn wir ständig damit beschäftigt sind, Zahlen und Codes zu recherchieren und Formulare auszufüllen, Poststreiks abzufedern und stundenlang in der BVG-App zu hängen, um eine Verkehrsverbindung durch die Stadt zu suchen, während über uns die Wasserrohre brechen?

Warum ist unser Leben so kompliziert geworden, wenn es doch im Grunde einfach zu erfüllende Bedürfnisse sind, die wir haben? Ich zum Beispiel würde gern einfach nur die Zeit zwischen zwei Rohrbrüchen nutzen und mal wieder bei Kerzenschein duschen.

Die Autorin legt Wert auf die Verwendung des Doppelpunkts zur Sichtbarmachung aller Geschlechter.

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